Energiegenossenschaften als Gemeinschafts- und Identitätsorte

Wissenschaftlerinnen der Universität Vechta forschen in EFZN-Projekt zu inklusiver und sozialverträglicher Energiewende

 

Die öffentliche Debatte um das neue Gebäudeenergiegesetz hat einmal mehr gezeigt: Die Energiewende ist ein fundamentaler Transformationsprozess, der den Alltag der Menschen an vielen Stellen tiefgreifend berührt. Um gesellschaftlichen Konsens zu wahren und Polarisierung entgegenzuwirken, führt daher kein Weg daran vorbei, die Energiewende inklusiv und sozialverträglich zu gestalten. Zwei Wissenschaftlerinnen der Universität Vechta haben in einem vom EFZN geförderten Projekt konkrete Vorschläge entwickelt, wie dies gelingen kann. Ihr Forschungsfokus dabei: Die besondere Rolle der Energiegenossenschaften.

Paula Bögel, Professorin (W1) für Transformationsmanagement in ländlichen Räumen an der Universität Vechta, konnte in ihrem Forschungsalltag schon mehrfach erleben, dass die Energiewende nicht nur gesellschaftliches Konfliktpotential bietet, sondern, ganz im Gegenteil, Menschen auf beeindruckende Art und Weise zusammenbringen kann. Während ihrer Zeit am Karlsruher Institut für Technologie leitete sie etwa gemeinsam mit Marius Albiez ein Realexperiment, bei dem kostenlos Balkonsolarkraftwerke an einige Karlsruher Bürger:innen ausgegeben wurden. Die Teilnehmenden wurden dabei gezielt angeregt, sich zu ihren Erfahrungen mit den kleinen Kraftwerken untereinander auszutauschen und sich gegenseitig zu unterstützen.

Balkonsolarkraftwerke, die Menschen verbinden

Das Resultat: Die gemeinsame Beschäftigung mit dem Energievorhaben ließ die Menschen zusammenwachsen und eine Art neue Gruppenidentität entstehen – und dies trotz ganz unterschiedlicher Hintergründe und Motivationen der beteiligten Akteure. Die Vielfalt der Beteiligten, so Bögel, sei dabei kein Hindernis, sondern eher ein wichtiges Hilfsmittel gewesen: „Wir haben nicht den Ansatz verfolgt: Alle müssen sich zur Nachhaltigkeit bekennen und dann dürfen sie mitmachen, sondern man erkennt verschiedene Motive, egal ob nun ökologischer, finanzieller oder anderer Natur, zur Teilnahme an dem Vorhaben an.“

Wie lassen sich die soziologischen und psychologischen Erkenntnisse aus diesem und anderen Realexperimenten großflächig für die Energiewende nutzbar machen? Oder einfacher gefragt: Wie können Menschen mit Hilfe des Themas Energie zusammengebracht werden? Kann sich mit Hilfe von Energievorhaben eine förderliche Gruppenidentität entwickeln, in der sich ganz unterschiedliche Menschen wohlfühlen können? Diesen Fragen gingen Paula Bögel und ihre Mitarbeiterin Neneh Braum im vom EFZN geförderten Projekt „Just Power Up“ nach.

Energiegenossenschaften als sozio-technologische Transformationsakteure

Die beiden Forscherinnen nahmen dabei Energiegenossenschaften im ländlichen Raum als wichtige Akteure im Transformationsprozess des Energiesystems in den Blick. Durch ihre starke lokale und regionale Verankerung und ihre oft ausgesprochen gemeinschaftlich orientierten Wirtschafts- und Arbeitsmodelle waren sie ideale Praxispartner und Forschungsobjekte. Die Analyse unterschiedlicher Genossenschaften erlaubte es den Forscherinnen, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden effektive Lösungsideen für mehr Partizipation, Inklusion und Sozialverträglichkeit in konkreten Energieprojekten zu entwickeln.

Für das Vorhaben wurden insbesondere Energiegenossenschaften rund um Vechta und aus benachbarten Regionen ausgewählt. „Wir haben erst einmal geschaut: Was gibt es überhaupt für Energiegenossenschaften? Wie sind sie entstanden und wie unterschieden sie sich? Gibt es Indizien, mit denen wir besonders diverse Energiegenossenschaften identifizieren können?“, erläutert Neneh Braum das Vorgehen. „Dann haben wir eine Auswahl getroffen und mit Vertreter:innen und Vorständen etwa eineinhalbstündige, qualitative Interviews geführt.“

Von der Analyse zu praktischen Empfehlungen

Die Interviews halfen den Forscherinnen zu ergründen, welche transformativen Potentiale Energiegenossenschaften für die Energiewende haben, mit welchen Herausforderungen die Mitglieder in ihrem Arbeitsalltag umgehen müssen und wie die Genossenschaften letztlich Prozesse demokratischer und sozialer Teilhabe stärken können. Eine der ersten spannenden Entdeckungen, so Neneh Braum, sei gewesen, dass sich unter dem Oberbegriff „Energiegenossenschaft“ ein buntes Feld ganz unterschiedlicher Initiativen und Organisationen verbirgt: „Wir waren überrascht, wie vielfältig die Landschaft der Energiegenossenschaften ist und wie unterschiedlich das Selbstverständnis und die Wahrnehmung von Energiegenossenschaften auf lokaler Ebene sein können.“

Im nächsten Schritt reflektierten die Forscherinnen die Erkenntnisse aus den Interviews gemeinsam mit Vertreter:innen des Genossenschaftsverband Weser-Ems, um daraus konkrete Empfehlungen für die Energiegenossenschaften und die Politik zu entwickeln. Dieser Praxisfokus, so Paula Bögel, sei für die beteiligten Partner und das gesamte Projekt sehr wichtig gewesen: „Der Stein ist wirklich ins Rollen gekommen, als die Praxispartner gemerkt haben: Okay, die machen auch wirklich was mit den Ergebnissen. Wir möchten sie jetzt nicht nur interviewen, sondern tatsächlich auch Dinge in Gang setzen.“

Energiegenossenschaften als hochinnovative Akteure der Energiewende

Entstanden ist dabei eine umfassende, detaillierte Analyse des Impacts, aber auch der aktuellen Herausforderungen und Probleme von Energiegenossenschaften. Auf Basis dieses Gesamtbildes konnten die beiden Forscherinnen gemeinsam mit den Praxispartnern konkrete politische Handlungsempfehlungen formulieren. Eine inklusive, durch Bürger:innen getragene Energiewende, so eine zentrale Erkenntnis der Forscherinnen, sei kein Selbstläufer, sie könne aber durch die kluge und zielgerichtete Schaffung von Strukturen und Unterstützungsangeboten auf den Weg gebracht werden.

Den Energiegenossenschaften käme dabei, so ein Kernergebnis der Studie, eine wichtige Bedeutung zu. Sie tragen zwar derzeit nur etwa 3% zur erneuerbaren Stromerzeugung in Deutschland bei, sind aber auf der Mikroebene des Transformationsprozesses Energiewende hochgradig innovative Akteure und bieten, nicht zuletzt auch durch ihre Vielfalt, Raum zur Erprobung neuer und unkonventioneller Ideen für die Transformation des Energiesystems. Um dieses Potential besser zu nutzen und auszubauen, schlagen die Forscherinnen daher eine dreigliedrige Unterstützung von Energiegenossenschaften unter den Stichworten „Finance, Foster, Facilitate“ vor:

  • Finance: Bereitstellung von finanziellen Mitteln zur Förderung von Energiegenossenschaften.
  • Foster: Stärkung der Energiegenossenschaften durch den Auf- und Ausbau von Netzwerken und Vermittlungspunkten.
  • Facilitate: Schaffung von Möglichkeitsräumen für ein gemeinsames Handeln in ländlichen Räumen.

Die Fördermaßnahmen, insbesondere im Bereich „Finance“, sollten sich dabei an Größe und Art der jeweiligen Energiegenossenschaften orientieren – für kleine Initiativen sind eher niederschwellige, risikoarme Finanzierungsmöglichkeiten reizvoll und förderlich, während größere Vorhaben vielleicht sogar eine fundierte Startup-Finanzierung benötigen. Die Forscherinnen plädieren außerdem dafür, eher wenig verbreitete (Geschäfts-)Modelle von Energiegenossenschaften stärker in den Fokus zu nehmen, etwa Belegschaftsenergiegenossenschaften in Unternehmen oder Dachgenossenschaften, die kleinere Energiegenossenschaften bündeln und entlasten können. Begleitet werden sollten diese politischen Maßnahmen von einer breit angelegten Kommunikationskampagne, um die Bevölkerung für die Arbeit der Energiegenossenschaften zu sensibilisieren und zu begeistern und im Idealfall zum Mitmachen anzuregen.

Die Energiewende als Gewinn für alle gestalten

Die Vechtaer Wissenschaftlerinnen sind derzeit noch dabei, die Projektergebnisse in Publikationen zu überführen, aber allein die Vorstellung der Ergebnisse bei wissenschaftlichen und politischen Veranstaltungen hat für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Die Forschungsarbeit hat scheinbar einen Nerv getroffen, wie Paula Bögel berichtet: „Unsere Postfächer laufen über.“ Sie hoffe auf eine möglichst nahtlose Anschlussfinanzierung, um die Forschungsarbeit weiter vertiefen zu können – die Nachfrage nach Erkenntnissen und Unterstützung aus der Wissenschaft für die Praxis sei da. Das Wichtigste sei es jetzt, so der Tenor der beiden Forscherinnen, die Energiewende nicht zu einem Elitenprojekt werden zu lassen. Mit ihrer Forschungsarbeit setzen sich dafür ein, dass die Transformation des Energiesystems als historisches Vorhaben für alle Betroffenen und Beteiligten ein echter Gewinn wird.


Projektleiterin Paula Bögel hat als Juniorprofessorin für Transformationsmanagement in ländlichen Räumen eine Stiftungsprofessur an der Universität Vechta. Ihre Stiftungsprofessur wird von verschiedenen Organisationen und Unternehmen – darunter auch Genossenschaften im Nordwesten Niedersachsen und die Raiffeisen-Stiftung – finanziert. Sie ist außerdem Gastprofessorin am IREES (Integrated Research Energy, Environment and Society) der Universität Groningen. Als Transformationsforscherin und ausgebildete Wirtschaftspsychologin untersucht sie, wie unsere Vorstellungen von positiven und nachhaltigen Lebensweisen Wirklichkeit werden können – im ländlichen Raum, in Städten, in Organisationen und in unseren eigenen vier Wänden.

Neneh Braum ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Vechta. Sie hat an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und an der Philipps-Universität in Marburg Politikwissenschaft studiert und nach ihrem Studium als Parlaments- und Kabinettsreferentin im ehemaligen Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz in Rheinland-Pfalz gearbeitet. An der Universität Vechta forscht Frau Braum derzeit insbesondere zu Governance-Strukturen und Partizipationsprozessen in der Nachhaltigkeitstransformation.

Über die Förderung

Das Forschungsprojekt „Entwicklung eines skalierbaren Ansatzes für eine inklusive Energiewende“ (Kurztitel „Just Power Up“) wurde über das Förderprogramm„Beschleunigung der Transformation des Energiesystems im Spannungsfeld von Energiekrise und Klimaschutz“ des Energie-Forschungszentrums Niedersachsen (EFZN) finanziert.

Das Förderprogramm hatte zum Ziel, disziplinübergreifende Fragen in drängenden Themenfeldern der niedersächsischen Energieforschung mit noch größerem Nachdruck voranzubringen, um so zur Beschleunigung der Energiewende beizutragen. Die Projekte des Programms wurden über einen Zeitraum von sechs Monaten, von Frühjahr bis Herbst 2023 gefördert.

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