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Rechtlich mit dem technologischen Wandel Schritt halten

Göttinger Forscherteam untersucht in efzn-Projekt die Potentiale von Experimentierklauseln für die Transformation des Energiesystems

Mit der Energiewende wird unser Energiesystem ganz fundamental und mit hohem Tempo umgebaut – es wird dezentraler, flexibler, komplexer. An vielen Stellen können dabei neue Technologien und innovative Ideen helfen, den Transformationsprozess zu erleichtern. Doch häufig stehen hier rechtliche Rahmenbedingungen im Weg, die sich zumeist langsamer ändern lassen, als es der technologische Fortschritt erfordert. Abhilfe können sogenannte Experimentierklauseln schaffen – Ermächtigungen für vorübergehende Sonderregelungen, die innovativen Vorhaben den nötigen juristischen Freiraum geben. Ein Forscherteam der Universität Göttingen hat dieses Rechtsinstrument genauer unter die Lupe genommen – und dabei auch eine Mustervorlage und Checkliste als Hilfestellung für die praxisnahe Umsetzung entwickelt.
 

Für Kevin Otter und Jakob Eh, wissenschaftliche Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Thomas Mann an der Universität Göttingen, hat ein fundamentaler Konflikt zwischen Energiewende und Recht das Interesse am Thema Experimentierklauseln geweckt: „Die Energiewende ist ein systemischer Transformationsprozess, in dessen Verlauf neue Probleme auftreten und gelöst werden müssen“, erklärt Kevin Otter. „Das Recht ist grundsätzlich anders strukturiert: Es wird erlassen, um bestehende Sachverhalte und Probleme zu regeln. Wenn neue Probleme auftreten, muss also ein neues Hindernis zunächst einmal mit einer Rechtslage bewältigt werden, die für dieses Hindernis eigentlich gar nicht ausgelegt ist.“ Das Recht, so Kevin Otter, sei von Natur aus innovationshemmend – ein großes Problem für einen so dynamischen Transformationsprozess wie die Energiewende. Beschleunigungsgesetze – wie etwa im Osterpaket 2023 – seien sinnvoll, aber letztlich zu reaktiv und zu langsam.

Rechtlichen Freiraum für die praktische Erprobung schaffen

Den Forschungsgegenstand ihres vom efzn geförderten Projekts, die Experimentierklauseln, beschreiben die beiden Forscher hingegen als proaktives Instrument: Eine Experimentierklausel kann auf exekutiver Ebene aktiviert werden, anders als ein Gesetz, das von der Legislative – d.h. in der repräsentativen Demokratie von einem Parlament – verabschiedet wird. Mit der Experimentierklausel kann vorübergehend der Rechtsrahmen so gelockert oder angepasst werden, dass ein bestimmtes regulatorisches Vorhaben umgesetzt und ausgetestet werden kann. Experimentierklauseln schaffen damit eine rechtliche Grundlage insbesondere für umfassende technologische Erprobungsvorhaben, sogenannte Reallabore, in denen neue Technologien in einem größeren Praxiseinsatz ausprobiert werden können.

Natürlich hebeln Experimentierklauseln die üblichen Gesetzgebungsprozesse nicht aus – sie schaffen nur vorübergehend einen rechtlichen Sonderraum, der letztlich, so  Kevin Otter, wichtige Ideen für eine spätere dauerhafte Rechtssetzung geben könne: „Sollten Probleme durch die Rechtslockerung auftreten, kann man natürlich schneller Anpassungen und Fehlerkorrekturen vornehmen und aus den Abläufen lernen. Das ist der Vorteil dieser Klauseln – sie sind flexibel, wandlungsfähig und nah an der Praxis.“

Ein neuartiges Rechtsinstrument für den Energiebereich

Experimentierklauseln werden bereits in vielen Bereichen eingesetzt, um neue Technologien im Praxiseinsatz erproben zu können. Ein prominentes Anwendungsfeld auf Bundesebene ist etwa der Verkehrsbereich – hier gibt es unter anderem Experimentierklauseln für neuartige Verkehrsmittel, autonome Fahrzeuge oder unbemannte Fluggeräte. Im Energiebereich wird das Rechtsinstrument noch verhältnismäßig selten verwendet. Ein bekanntes Vorhaben der letzten Jahre, bei dem sie in größerem Maße genutzt wurden, ist das Förderprogramm „Schaufenster intelligente Energie – Digitale Agenda für die Energiewende“, kurz SINTEG. Das vom Bundeswirtschaftsministerium von 2016 bis 2020 geförderte Programm hatte zum Ziel, den Einsatz innovativer digitaler Technologien im Energiebereich zu erproben und so Erfahrungen für ein flexibles, zukunftssicheres Energienetz auf Basis neuer Technologien und digital gestützter Geschäftsmodelle zu sammeln. Um diese Arbeit im „Reallabor“ SINTEG überhaupt zu ermöglichen, wurden im Rahmen des Vorhabens per Verordnung durch die Bundesregierung mehrere rechtliche Experimentieroptionen festgelegt, die es den beteiligten Industriepartnern erlaubten, neue technologische Ansätze möglichst ohne wirtschaftliche Nachteile erproben zu können – etwa in den Bereichen Digitalisierung oder Sektorenkopplung.

Für Jakob Eh und Kevin Otter waren die Ergebnisse und Analysen aus dem SINTEG-Programm eine hilfreiche Quelle, um wichtige Erkenntnisse für den zukünftigen Einsatz von Experimentierklauseln im Energiebereich zu sammeln. So sei es besonders wichtig, erläutert Jakob Eh, die Klauseln möglichst unbürokratisch zu gestalten: „Eine der SINTEG-Klauseln sah etwa vor, dass sich beteiligte Partner bestimmte staatlich regulierte Strompreisbestandteile rückwirkend erstatten lassen konnten, was allerdings mit enormen Melde- und Dokumentationspflichten verbunden war, die im Grunde von den Projektteilnehmenden kaum eingehalten werden konnten.“

Doch wie lässt sich diese möglichst unbürokratische Gestaltung konkret umsetzen? Oder allgemeiner gefragt: Wie konzipiert man Experimentierklauseln im Bereich Energierecht so, dass sie einerseits praxisnah ihr Ziel erreichen, nämlich innovative Vorhaben zu ermöglichen und zu erleichtern – und andererseits den geltenden gesetzlichen Rahmen wahren? Für dieses nicht triviale Unterfangen haben die beiden Göttinger Forscher im Rahmen ihres Projekts eine Muster-Experimentierklausel entwickelt, die als Blaupause für zukünftige rechtliche Regelungen dienen soll. „Wir haben geschaut: Welche Rahmenbedingungen müssen wir erfüllen? Was setzt das Grundgesetz, was setzt das EU-Recht für Grenzen, wie eine solche Experimentier-klausel strukturiert und gestaltet sein muss? Und wie bleibt das Demokratieprinzip gewahrt bei einem Instrument, das von der Exekutive – auf Basis einer gesetzgeberischen Ermächtigung – in Kraft gesetzt wird?“, erklärt Kevin Otter.

Aus der umfassenden Analyse der gesetzlichen Rahmenbedingungen und bestehender Klauseln wie etwa aus dem SINTEG-Programm entstand so nach und nach eine Muster-Experimentierklausel, die einen anpassbaren Grundlagentext bietet, der als Basis für die rechtliche Ausgestaltung energierechtlicher Experimentierklauseln dienen kann. Ergänzt wird diese Mustervorlage durch eine umfangreiche Checkliste, mit der sich die einzelnen Abschnitte der Klausel für das konkrete eigene Vorhaben auf Vereinbarkeit mit dem Verfassungs- und Unionsrecht prüfen und ggf. anpassen lassen. Die beiden Forscher haben dadurch ein handfestes Werkzeug für die Erstellung von Experimentierklauseln geschaffen – mit dem Ziel, das Instrument attraktiver zu machen, erläutert Jakob Eh: „Solch eine Checkliste existierte bisher in dieser Form noch nicht – die Idee ist, diese Liste zu nutzen und sowohl bei Formulierung der Experimentierklausel durch den Gesetzgeber als auch bei Aktivierung dieser durch die Exekutive zu schauen: Wo liegen denn bei dem Reallabor, das wir gerade planen, potentiell die Probleme bei der Erstellung und Nutzung von Experimentierklauseln?“

Darüber hinaus benennen die Forscher in ihrem Forschungsbericht mehrere Anwendungsbereiche für Experimentierklauseln im Energiebereich. Konkretes Potential sehen sie etwa in den Bereichen des Windenergieausbaus durch finanzielle Gemeindebeteiligung und des Mobilitätswechsels durch steuerliche Anreizsysteme.

Experimentierklauseln mit zentraler Rolle für die Energiewende

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts – inklusive der Muster-Experimentierklausel und der dazugehörigen Checkliste – sollen als Open-Access-Band in der efzn-Schriftenreihe veröffentlicht werden. Teile der Ergebnisse wurden bereits in juristischen Fachzeitschriften publiziert. Die beiden Forscher hoffen, dass ihre Arbeit den Einsatz von Experimentierklauseln im Energiebereich erleichtert und fördert – und auch Impulse und Ideen für die Umsetzung einer geplanten Reallabor-Gesetzgebung auf Bundesebene liefert. Außerdem wünschen sie sich eine größere wissenschaftliche Sichtbarkeit des Themas, erläutert Jakob Eh: „Wir wollen auch in der Rechtswissenschaft die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass Experimentierklauseln und damit umgesetzte Reallabore eine zentrale Rolle bei der rechtlichen Umsetzung der Energiewende einnehmen können. Unser Anliegen ist es, das Instrument insgesamt bekannter zu machen und den Umsetzungsprozess weiter anzuschieben.“
 


Projektbeteiligte

Prof. Dr. Thomas Mann ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen des Energie- und Umweltrechts, hier insbesondere bei Rechtsproblemen des Abfall-, Berg- und Atom- und Strahlenschutzrechts, des Öffentlichen Wirtschaftsrechts, sowie des Kommunalrechts und  des Berufsrechts der Freien Berufe.

Jakob Eh ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht, an der Georg-August-Universität Göttingen. Er promoviert bei Prof. Dr. Thomas Mann zum Thema „Die Gemeinsame Fischereipolitik im System des Europäischen Umweltrechts“. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Energierecht sowie im internationalen und europäischen Umweltrecht.

Kevin Otter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht, an der Georg-August-Universität Göttingen. Er promoviert bei Prof. Dr. Sina Fontana, MLE (Universität Augsburg) zum Thema „Trans- und Intersexualität im Sport – Verfassungsrechtliche Grenzen von Zugangsbeschränkungen“. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Sportrecht und dem Verfassungsrecht sowie dem hiermit verknüpften Energierecht.

Über die Förderung

Das Forschungsprojekt wurde über das Förderprogramm „Beschleunigung der Transformation des Energiesystems im Spannungsfeld von Energiekrise und Klimaschutz“ des Energie-Forschungszentrums Niedersachsen (efzn) finanziert.

Das Förderprogramm hatte zum Ziel, disziplinübergreifende Fragen in drängenden Themenfeldern der niedersächsischen Energieforschung mit noch größerem Nachdruck voranzubringen, um so zur Beschleunigung der Energiewende beizutragen. Die Projekte des Programms wurden über einen Zeitraum von sechs Monaten, von Frühjahr bis Herbst 2023 gefördert.

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