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Wenn der Fluss die Großstadt heizt

Braunschweiger Forscher ermitteln in EFZN-Projekt großes Potenzial für die Wärmegewinnung aus Fließgewässern in Deutschland

Wer schon einmal im Hochsommer die Beine in einem Gebirgsbach gekühlt hat, käme kaum auf die Idee, dass Fließgewässer als mögliche Wärmequellen dienen können. Und doch verfügen Flüsse über ein konstantes thermisches Potential, das mit Hilfe moderner Wärmepumpentechnologien etwa für das Heizen von Wohngebäuden genutzt werden kann. Wissenschaftler der Technischen Universität Braunschweig haben nun für 80 deutsche Großstädte untersucht, welche Rolle diese bisher weitgehend unerschlossene Wärmequelle im Energiesystem der Zukunft spielen könnte. Ihre Erkenntnis: Die Wärmegewinnung aus Gewässern, die sogenannte Aquathermie, kann einen entscheidenden Beitrag zur Wärmewende leisten – und bei effektivem Einsatz ganze Ortschaften heizen.

Alles begann mit der Anfrage eines lokalen Energieversorgers: Das Forschungsteam um Prof. Dr.-Ing. habil. Roland Wüchner am Institut für Statik und Dynamik der TU Braunschweig sollte ermitteln, welches Wärmepotential die Oker für die Braunschweiger Wärmeversorgung bieten könnte. „Wir hatten keine großen Erwartungen und waren dann ganz baff, dass unser kleiner Fluss – bei einmaliger, moderater Wasserentnahme – ca. 140 Megawatt Wärmeleistung für die Stadt liefern könnte“, erinnert sich Christian Seidel, der als stellvertretender Projektleiter am Institut an diesem Vorhaben mitgearbeitet hat. Eine nicht zu vernachlässigende Größe, denn mit 140 Megawatt Wärmeleistung können 50.000 bis 60.000 Haushalte beheizt werden. Auf Basis dieser Erkenntnisse wurde dem Team schnell klar, dass es sich lohnen könnte, diese Analyse in ähnlicher Form für Fließgewässer in ganz Deutschland durchzuführen, um einen fundierten und praktischen Überblick zu bieten, welche Flüsse besonders für die Wärmeversorgung geeignet sind – und um das Potential der Aquathermie für die Wärmewende im Allgemeinen zu evaluieren.

Im Rahmen des vom EFZN finanzierten Projekts „Hydro2HEAT“ hat das Team diese Untersuchung nun mit bundesweiter Perspektive durchgeführt: Unter der Leitung von Professor Wüchner ermittelten die Projektmitarbeiter Christian Seidel und Dr. Lars Ostermann das Aquathermie-Potential für 80 deutsche Großstädte – für Orte also, an denen der Wärmebedarf besonders hoch ist, da sie mehr als ein Drittel der deutschen Gesamtbevölkerung beherbergen. Die Versorgung dieser dicht besiedelten Städte mit nachhaltig erzeugter Wärmeenergie stellt eine besondere Herausforderung dar. Auf Basis öffentlicher hydrologischer Daten, unter anderem zu Temperatur und Wassermenge, entwickelten die Forscher Gewässermodelle, mit deren Hilfe sie das thermische Potential der Fließgewässer für die einzelnen Standorte ermitteln konnten. Diese Untersuchung, so Christian Seidel, sei dabei mit ganzheitlichem Blick durchgeführt worden: „Wir haben bei unserer Betrachtung immer auch die wichtigen Player Biothermie, Geothermie und Solarthermie einbezogen und bei all diesen anderen Bereichen gemerkt: Es gibt entsprechend Lücken, die es zu füllen gilt – und hier kann die Aquathermie in Ergänzung zu den anderen Wärmequellen einen wertvollen Beitrag leisten.“

Ein massives, bisher kaum genutztes Wärmepotential

Das auch für die Forscher überraschende Ergebnis der Analyse: Die Aquathermie kann einen entscheidenden Beitrag zur Wärmewende in den Großstädten leisten, insbesondere für den Raumwärmebedarf von Haushalten, Industrie, Dienstleistungsbetrieben, Handel und Gewerbe. Fast zwei Drittel der untersuchten Städte könnten ihren Raumwärmebedarf zur Hälfte aus ihren anliegenden Fließgewässern decken. 41 der 80 Städte könnten den Raumwärmebedarf sogar zu mehr als 100 Prozent über die Aquathermie decken. Ein gigantisches Wärmepotential, das durch die oft zentrale Lage der Flüsse ideal für die Versorgung städtischer Nahwärmenetze geeignet sei.

Dafür, so Christian Seidel, seien häufig noch nicht mal große bauliche Eingriffe erforderlich: „In den untersuchten Großstädten sind 271 Wasserkraftanlagen noch in Betrieb. Hier wird das Flusswasser ohnehin für die Gewinnung mechanisch-elektrischer Energie ausgeleitet – es bestehen also bereits Ein- und Ausleitungsbauwerke, große und kleine Turbinenanlagen mit Rechen davor, Fischwege, Fischauf- und abstiege, usw. Es wäre ein Leichtes, sicherlich auch aus rechtlicher Sicht, diese Anlagen für die Wärmewende zu ertüchtigen und aus dem bereits umgeleiteten Wasser noch Wärmeenergie zu gewinnen.“ Die Gewinnung erfolgt dabei durch Flusswärmepumpen, die über im Wasser liegende Wärmetauscher die Temperatur des durchströmenden Wassers geringfügig absenken und mit Hilfe von Elektrizität aus erneuerbaren Quellen die gewonnene Wärmeenergie potenzieren und auf Temperaturen um die 60 bis 90°C bringen können. Die Wärme wird ins Nahversorgungsnetz für die umliegenden Gebäude geleitet, das abgekühlte Wasser wieder in den Fluss.

Gute Voraussetzungen in Deutschland für Aquathermie

Die Fließgewässer in Deutschland, erklärt Lars Ostermann, seien für diese Art der Wärmegewinnung gut geeignet: „Gerade zur Hauptheizperiode im Winter sind unsere Flüsse meist gut gefüllt – und gleichzeitig warm genug, um mit der enthaltenen Energie noch zu heizen. Wir haben 21 Fließgewässer in ganz Deutschland an einer Vielzahl von Messstellen untersucht und diese zeigen durchweg eine steigende Temperaturtendenz – seit 1950 sind unsere Flüsse und Bäche im Schnitt um 3-4 Grad Celsius wärmer geworden. Dieses gesteigerte Wärmepotential, das ja eine Folge des Klimawandels ist, könnten wir tatsächlich nutzen, um zukünftig klimaneutral zu heizen.“

Ein möglicher Nebeneffekt der Wärmegewinnung: Die Einleitung des abgekühlten Wassers in die Flüsse könnte sich positiv auf die Flora und Fauna im Fluss auswirken. „Der Sauerstoffgehalt der Gewässer nimmt mit steigender Temperatur drastisch ab – im Jahresmittel um 8-10 Prozent, im Sommer teilweise um 15-20 Prozent“, so Lars Ostermann. „Hier könnte der aktive Wärmeentzug helfen, die Durchschnitts­temperatur des Flusses zu senken, was zu einer maßgeblichen Verbesserung des ökologischen Zustandes der Fließgewässer führt und eine effiziente Maßnahme zur Klimafolgenanpassung darstellt.“

Eine sinnvolle Wärmequelle auch im ländlichen Bereich

Nicht nur für die untersuchten Großstädte, auch für kleinere Städte und Dörfer, so die Forscher, sei eine Wärmeversorgung über die Aquathermie durchaus denkbar und sinnvoll. Grund dafür sei unter anderem die historisch gewachsene, flächendeckend vorhandene Wasserkraftinfrastruktur in Deutschland, erklärt Christian Seidel: „In einer früheren Studie haben wir festgestellt, dass wir in Deutschland über 40.000 ungenutzte Altstandorte haben – das elektrische Reaktivierungspotential liegt etwa bei 9,3 Terawattstunden. Für die Wärmegewinnung sieht es ähnlich aus – selbst eine kleine historische Mühle könnte die Wärmeversorgung des umgebenden Dorfes signifikant stützen.“

Der Vorteil dabei: Insbesondere historische Standorte sind bei Anwohnern oft akzeptiert und werden als lokale Wahrzeichen und Bereicherung für das Ortsbild wahrgenommen. Ließen sich diese Standorte unter Berücksichtigung des Denkmalschutzes für die Wärmegewinnung reaktivieren, sei dies eine Win-win-Situation für den Ort und für die Wärmewende insgesamt, so Christian Seidel: „Wir haben dadurch die Möglichkeit, unser Kulturgut Mühle wieder aufzuwerten – häufig weiß ja niemand, wo das Geld für die Instandhaltung herkommen soll.“

Der nächste Schritt: Ein Potentialatlas für Niedersachsen

Basierend auf den Erfahrungen aus dem „Hydro2HEAT“-Projekt und den positiven Untersuchungsergebnissen will das Forscherteam als Nächstes einen Potentialatlas für die Aquathermie in Niedersachsen entwickeln, um so lokalspezifisch die Möglichkeiten zur Wärmegewinnung aus den Gewässern des Landes zu dokumentieren. „Niedersachsen sitzt auf 20 Prozent der großen Fließgewässer und hat ca. 100-110 Terawattstunden Aquathermie-Potential, benötigt aber selbst nur etwa 80 Terawattstunden. Wir können uns hier in Niedersachsen also eigentlich komplett mit der Fließgewässerwärme versorgen“, erklärt Christian Seidel. „Um dieses Potential sichtbar und nutzbar zu machen, möchten wir es über den Atlas systematisch erfassen und so eine wichtige Datenbasis und Entscheidungshilfe für unterschiedliche Stakeholder in der Wärmewende zur Verfügung stellen.“ Potentialatlanten für weitere Bundesländer sollen folgen.

Aus Sicht der Forscher wäre es eine vertane Chance, für die Wärmewende nicht flächendeckend auf die Aquathermie zurückzugreifen. „Wir haben in Deutschland ein Fließgewässernetz mit einem Gesamtumfang von 400.000 km, das bei zweifacher Wärmeentnahme aus demselben Gewässer im Prinzip 94 Prozent unseres bundesweiten Wärmebedarfs im Niedertemperaturbereich decken könnte“, so Christian Seidel. „Das sind knapp 64 Prozent des Gesamtwärmebedarfs und 36 Prozent des deutschen Endenergiebedarfs. Diese vor der Haustür liegende Wärmequelle sollten wir unbedingt nutzen.“

 


Projektbeteiligte

Prof. Dr.-Ing. habil. Roland Wüchner ist Inhaber des Lehrstuhls für Statik und Dynamik der TU München und war während der Projektlaufzeit Leiter des Instituts für Statik und Dynamik an der TU Braunschweig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Finite-Elemente-Methoden in der nichtlinearen Strukturmechanik, Leichte Flächentragwerke, insbesondere Membranstrukturen, Formfindung, Fluid-Struktur-Interaktion, Windingenieurwesen und Aeroelastizität.

Dr. Lars Ostermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Statik und Dynamik der TU Braunschweig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die numerische Analyse von Oberflächengewässern, die numerische Optimierung im Bereich der Formfindung in der Strömungs- und Strukturmechanik, Tragwerks- und Betriebsfestigkeitsuntersuchungen, die Anwendung und Weiterentwicklung von Finite-Elemente-Methoden und Finite-Volumen-Verfahren für Oberflächenströmungen.

Dipl.-Ing. Christian Seidel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Statik und Dynamik der TU Braunschweig. Er forscht im Bereich der Strukturmechanik und Strukturdynamik, der Erneuerbaren Energien, der Wasserkraft und insbesondere der Hochleistungswasserräder, der Hochleistungsgetriebe und Hochleistungswellen, der Betriebsfestigkeit und Form- und Tragwerksoptimierung sowie der methodischen Entwicklung für Potenzialuntersuchungen im Bereich der Wasserkraft und der Aquathermie. Darüber hinaus ist Herr Seidel auf dem Gebiet der Modellbildung und der numerischen Analyse der Regen-Wind-induzierten Schwingungen als Wissenschaftler aktiv und arbeitet experimentell im Wasserbaulabor und Windkanal.

Abschlussbericht

Grüne Nah- und Fernwärme aus Fließgewässern: Untersuchung für die 80 Großstädte in Deutschland
Dipl.-Ing. Christian Seidel, Dr.-Ing. Lars Ostermann